Das Invesco Developing Markets Team unter der Leitung von Chief Investment Officer Justin Leverenz adressiert wichtige Fragen zu den jüngsten regulatorischen Eingriffen in China und ihren Auswirkungen auf den Ausblick für chinesische Aktien.
Q. Welche Absichten verfolgt die chinesische Regierung mit den vielen ordnungspolitischen Eingriffen der letzten Monate? Liegt ihnen eine bestimmte Logik zugrunde?
Drastische regulatorische Eingriffe in allen Sektoren haben die Anleger verschreckt und das Vertrauen in chinesische Aktien erschüttert. Das gilt insbesondere für chinesische American Depositary Receipts (ADRs) an US-Börsen. Der Nasdaq Golden Dragon China Index (HXC), ein nach der Marktkapitalisierung gewichteter Index chinesischer Unternehmen mit US-Listing, hat seit Jahresanfang um fast 27% nachgegeben.1
Wir haben drei Fragenkomplexe identifiziert, die adressiert werden müssen, um die Motivation hinter diesen chaotischen Regulierungseingriffen und ihre Stoßrichtung wirklich zu verstehen.
- Zunächst zu den unmittelbaren Auswirkungen, dem „Was“: Welche neuen Regelungen sind eingeführt worden? Wie werden sie sich auf das Wachstum, die Marktanteile und die Profitabilität der Unternehmen auswirken?
- Der zweite Fragenkomplex betrifft die politische Zielsetzung dieser Regulierungsänderungen, also das „Warum“.
- Drittens gilt es herauszufinden, ob wir es mit einer grundlegenden Veränderung des Regierungsverhaltens bzw. der Wirtschaftspolitik zu tun haben und was hinter einer solchen Neuausrichtung stehen könnte. Diese Fragen ermöglichen es uns, über die unmittelbaren Auswirkungen hinauszudenken und uns klarer darüber zu werden, was die politischen Entscheider hier im Umgang mit verschiedenen inländischen und internationalen Spannungsfeldern zu erreichen versuchen.
Für die meisten Anleger scheinen derzeit die Fragen zu den direkten, kurzfristigen Folgen des neuen Regulierungskurses im Vordergrund zu stehen, da sie für die Einschätzung der kurzfristigen Auswirkungen auf die Unternehmensgewinne wichtig sind. Im Kontext eines sich wandelnden Chinas wird die Beantwortung dieser Fragen jedoch kaum helfen, das unausgeschöpfte Wertpotenzial der chinesischen Unternehmen zu bewerten.
Mit Blick auf die direkten, kurzfristigen Auswirkungen hat es eine Vielzahl scheinbar chaotischer Regulierungsmaßnahmen gegeben.
- Strengere Regeln für Fintech-Unternehmen – zusammen mit dem vereitelten IPO der Ant Group Ende vergangenen Jahres haben diese Eingriffe den dynamischen Sektor erschüttert. Ziele dieser Regelungen sind eine bessere Kontrolle der Verschuldung im System (unbesicherte Verbraucherkredite), die Unterstellung der Fintech-Plattformen unter die Bankenaufsicht und eine Minderung des „Moral Hazard“, d.h. des rücksichtslosen Verhaltens zulasten anderer (mit dem Ant-Modell des Weiterverkaufs verbriefter Kredite an Banken).
- Antimonopolvorschriften, die sich gegen monopolistisches Wettbewerbsverhalten richten und auf Verbraucherschutz abzielen. Im Fokus stehen vor allem die marktbeherrschenden Internetplattformen. Diese richten sich vor allem gegen die dominanten Internetplattformen.
- Datenschutzbestimmungen.
- Arbeitsschutzbestimmungen für sogenannte Gig-Worker (Arbeiter auf Abruf, z.B. bei Essenslieferdiensten und im Onlinehandel).
- Regulierung des privaten Bildungssektors, durch die ein Großteil des organisierten Geschäfts mit außerschulischen Zusatzangeboten verboten und der zuvor wachstumsstarken Branche fast der Todesstoß versetzt worden ist.
- Regulierung der Inhalte von Unterhaltungsangeboten und erneute Angriffe gegen die sozialen Medien — und vielleicht schon bald gegen Kurzvideo-Apps – einschließlich einer kritischen Prüfung der Rolle von Social-Media-Stars, Influencern und Meinungsführern.
Angesichts der sich überschlagenden Nachrichten zum härteren Kurs der chinesischen Regierung stellen sich vor allem Fragen in Bezug auf die Auswirkungen für das Wachstum und die Profitabilität der Unternehmen. Die erste Reaktion der Märkte war heftig, da die Investoren große Befürchtungen hinsichtlich der Auswirkungen auf die Unternehmensbewertungen hatten.
Kommen wir nun zum „Warum.“
Der zweite Satz Fragen — zu den Absichten hinter diesem politischen Kurswechsel — erscheint uns relativ klar. Diese Kräfte sind jedoch sehr vielschichtig und miteinander verwoben. Betrachten wir die verschiedenen Aspekte des „Warum“ der Reihe nach.
Zwei wesentliche Faktoren erscheinen offensichtlich:
- Soziale Ungleichheit in China nach drei Jahrzehnten eines ungezügelten Wachstums. Chinas politische Entscheider wollen — wie ein Großteil der weltweiten Regierungen — gegen die zunehmend asymmetrischen Renditen aus Kapital- und Arbeitseinkommen angehen. Die chinesische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie die soziale Mobilität fördern und für eine größere Chancengleichheit durch einen fairen Wettbewerb und die Regulierung monopolistischer Praktiken sorgen will.
- Entwicklung der chinesischen Kapitalmärkte. Zumindest hinter einigen dieser Maßnahmen dürfte auch das Bestreben stehen, die Entwicklung der chinesischen Kapitalmärkte voranzutreiben, indem Listings chinesischer Unternehmen an ausländischen Börsen beschränkt werden und Hongkong als bevorzugter „heimischer Offshore“-Kapitalmarkt gefördert wird. Auf dieses wichtige Thema werden wir noch zurückkommen.
Diese Motive stimmen weitgehend mit den übergreifenden politischen Zielsetzungen überein, die beim 19. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2017 formuliert wurden. Bei diesem Anlass wurde das „Gedankengut von Xi Jinping“ mit seiner Betonung eines „Sozialismus chinesischer Prägung“ in der Parteiverfassung verankert. Die drei übergreifenden Ziele, die wir in diesem Zusammenhang für relevant halten, stellen auf die negativen externen Effekte in Bezug auf Umwelt, Gleichstellung und Geopolitik ab, die mit dem jahrzehntelangen ungezügelten Wachstum der chinesischen Wirtschaft in Verbindung gebracht werden. Und natürlich passt jeder dieser Punkte gut zu den industriepolitischen Zielen, die zur Bewältigung dieser Herausforderungen entwickelt wurden.
- Umwelt. China hat sich mehr Umweltschutz und Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben und in dieser Hinsicht in den letzten fünf Jahren enorm viel unternommen, zum Beispiel mit angebotsseitigen Eingriffen zur Steuerung der Produktion in Schwerindustrien wie Stahl, Kohle, Zement und Bergbau. Gleichzeitig hat China in den massiven Ausbau erneuerbarer Energien, die Elektrifizierung des Transports (E-Fahrzeuge und -Komponenten) und die leistungsstärksten Hochspannungsleitungen investiert. Dies sind auch industriepolitische Prioritäten für Zukunftsbranchen.
- Soziale Gleichstellung. Chinas politische Führung sieht sich, wie andere Regierungen auch, mit dem Unmut seiner Bevölkerung über soziale Ungleichheit und eine fehlende soziale Mobilität konfrontiert. Dieser stellt die Legitimität des Staates in Frage. Um die Chancengleichheit zu verbessern, treibt China ambitionierte Programme in den Bereichen Wohnbau, Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und Versicherung voran.
- Geopolitik. Das dritte Ziel ist die nationale Sicherheit in einer Welt, die Chinas Aufstieg nach chinesischem Empfinden zunehmend ablehnend gegenübersteht. China will seine vermeintlichen externen Abhängigkeiten verringern. An erster Stelle sehen wir hier die Abhängigkeit vom Öl, von Halbleitern und vom US-Dollar als wichtigster chinesischer Handelswährung.
Kommen wir nun zum dritten Fragenkomplex und damit einer genaueren Betrachtung der wesentlichen Gefahren, die von den regulatorischen Eingriffen ausgehen.
Unserer Ansicht nach hat sich Chinas politische Vision in den letzten Jahren grundlegend geändert. Die derzeitige Führung in Beijing betrachtet die Welt aus einer anderen Perspektive als ihre Vorgänger der Nach-Mao-Ära. In China scheint sich zunehmend die Überzeugung durchzusetzen, dass der Westen im Niedergang begriffen ist und zugleich Chinas Aufstieg verhindern will. Insbesondere von den USA wird geglaubt, dass sie nach ihren teuren Interventionen im Nahen Osten und Zentralasien unter der Last ihrer internationalen Verpflichtungen ächzen. Nach Ansicht Chinas hat dies wie auch die globale Finanzkrise und die COVID-Pandemie tiefe strukturelle und kulturelle Probleme des Westens offengelegt. Daher wird in China auch erwartet, dass sich die USA stärker aus der Weltpolitik zurückziehen und damit ein geopolitisches Vakuum zurücklassen werden. Außerdem besteht die Überzeugung, dass die Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Federführung der USA eine liberale Weltordnung etabliert haben, Chinas Aufstieg angesichts des Niedergangs der USA mit immer mehr Besorgnis sehen.
China vermutet (vielleicht richtigerweise), dass der Westen letztlich auf Eindämmung und Transformation setzt und dass die westlichen Staaten keine politische Weltmacht neben sich zulassen werden, die nicht ihre Vorstellungen einer liberalen Weltordnung teilt. Daher muss China seine externen Abhängigkeiten – vom Öl, von Halbleiterimporten und vom US-Dollar – reduzieren.
- Öl. China ist kein rohstoffreiches Land. Daher dienen die Elektrifizierung des Transports und die Ausweitung der erneuerbaren Energien nicht nur Umweltzielen, sondern auch der nationalen Sicherheit und Souveränität.
- Halbleiter. Halbleiter und die in ihnen verbauten technologischen Komponenten werden weitgehend von den USA und zum Teil von Japan kontrolliert. Daher ist es China ein dringendes Anliegen, in diesem Bereich autark zu werden.
- Dollar. China will Unternehmen zur Rückkehr nach China bewegen, vor allem in Chinas „einheimischem Offshore-Markt“, Hongkong. China ist zwar die wichtigste Handelsnation der Welt. Die wichtigste Reservewährung der Welt ist jedoch der US-Dollar, der für fast alle internationalen Transaktionen verwendet wird. Aus Sicht Chinas stellen die Dominanz des Dollars und sein potenzieller Einsatz als Waffe eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar. Umso mehr ist China daran gelegen, einen liquiden Kapitalmarkt zu schaffen, um Handelspartner davon zu überzeugen, für ihre Transaktionen Renminbi (RMB) zu verwenden.
Q. China ist einzigartig, aber ist es ein kapitalistisches System?
Als Investoren sehen wir die jüngste Welle unberechenbarer Eingriffe in die chinesische Wirtschaft mit Besorgnis. Wir haben uns aber auch bemüht, die jüngsten Entwicklungen mit etwas Abstand zu betrachten und Chinas besondere Lage besser zu verstehen.
Chinas Wirtschaft basiert auf einem hybriden Modell, einer Form von politischem Kapitalismus, die auf dieser Welt nicht gänzlich unbekannt ist — beispielsweise gibt es Parallelen zur Entwicklung in großen Teilen Asiens im 20. Jahrhundert (Südkorea, Taiwan, Malaysia). Chinas heutiges Modell ist das Ergebnis eines politischen und kulturellen Entwicklungsprozesses, dessen Anfänge mehrere Jahrtausende zurückreichen. Es ist ein Modell, das kapitalistisches Unternehmertum mit einem in höchstem Maße paternalistischen Staat verbindet. Es ist ein Modell — wie es Branko Milanovic in seinem Buch Capitalism Alone so treffend beschreibt —, das darauf ausgelegt ist, von einem unabhängigen, von einer effizienten technokratischen Bürokratie organisierten Staat geleitet zu werden.
Die staatliche Kontrollmacht in China ist extrem hoch. Daran wird sich auch kaum etwas ändern. Die rechtsstaatlichen Strukturen sind bewusst unklar gehalten, sodass der Staat frei von rechtlichen Beschränkungen agieren kann, was zu einer sehr kapriziösen Politik führen kann. Letztliches Ziel — und Legitimitätsgrundlage — des Modells ist jedoch ein inklusives Wachstum.
Dabei ist China ganz klar eine kapitalistische Wirtschaft. Der private Sektor bestimmt Produktion, Beschäftigung und Wachstum. Der Kapitalismus ist in China tief verwurzelt. Der dynamische private Sektor, dessen Wachstum von der Regierung unterstützt wird, ist der Wachstums- und Innovationstreiber der Wirtschaft. Die chinesische Wirtschaft basiert jedoch auf einem hybriden Modell, in dem der Staat für eine effiziente Bereitstellung öffentlicher, entwicklungskritischer Güter wie Infrastruktur sorgt und negative externe Effekte ausgleicht (inklusives Wachstum).
Q. Wird China wie andere Schwellenländer in der sogenannten „Middle Income Trap“ – dem mittleren Einkommensbereich zwischen der Konkurrenz aus armen Tieflohnländern und reichen Hochtechnologieländern – stecken bleiben?
Der Begriff „Middle Income Trap” bezieht sich auf die häufig beobachtete Unfähigkeit von Schwellenländern, den Entwicklungssprung hin zu höherwertigen, hochproduktiven Dienstleistungsbranchen zu schaffen, nachdem die tief hängenden Früchte – billige Arbeit und zunehmende Kapitalintensität (typischerweise durch eine Umstellung von Agrarbetrieben auf Fabriken) – geerntet sind. Die Weltbank prägte diesen Begriff vor 15 Jahren für das Phänomen, dass es die meisten aufstrebenden Volkswirtschaften in Lateinamerika und Asien nicht schafften, aus einer Pro-Kopf-Einkommensspanne von 10.000 bis 12.000 US-Dollar auszubrechen.
Das Konzept der Middle Income Trap ist ein wiederkehrendes Thema unter China-Skeptikern und wird häufig in einem Atemzug mit Chinas demografischer Herausforderung genannt. Wir glauben aber, dass China anders ist. Und wie die Regulierungsvorstöße — oder vielleicht besser „Reformen“ — der letzten Wochen verdeutlichen, will Chinas politische Führung sicherstellen, dass China anders bleibt und den Sprung in die Liga der modernen Industrieländer anders als viele andere aufstrebende Volkswirtschaften schafft.
Die Middle Income Trap ist ein zumeist falsch verstandenes Konzept, wobei der eigentliche Fehler ein statistischer Fehler ist. Die Wachstumsschwierigkeiten der meisten Schwellenländer sind im Wesentlichen das Ergebnis von dualen Wirtschaftssystemen mit einer relativ kleinen Gruppe effizienter Arbeitskräfte im formalen Sektor, die das Wachstum vorantreiben, und einer überwältigenden Mehrheit von gering qualifizierten oder ungelernten Arbeitern im informellen Sektor, die in von Familienbetrieben geprägten Branchen mit fast keinem strukturellen Wachstum gefangen sind. Damit ist die Middle Income Trap auf das Fehlen sozialer Mobilität oder die Unfähigkeit dieser Länder, ein „inklusives Wachstum“ sicherzustellen, zurückzuführen. Der statistische Fehler besteht darin, dass die mittleren Einkommen nur langsam steigen, weil die Einkommen der großen Mehrheit der Bevölkerung der Schwellenländer real nicht wachsen, während die der kleinen Mittelschicht in diesen Ländern deutlich schneller wachsen, aber nicht die gesamte Nation hochziehen können.
Dagegen ist China das einzige Land der Welt, das in den letzten drei Jahrzehnten nachhaltig hohe Wachstumsraten – und ein inklusives Wachstum – erzielt hat. China hat in den letzten 30 Jahren 300 bis 400 Millionen Konsumenten mit mittlerem Einkommen hervorgebracht.2 Jetzt steht es vor der Herausforderung, dem Rest der chinesischen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten eine ähnliche Entwicklung zu ermöglichen. Die Xi-Regierung versucht, gleichzeitig die Instabilitäten der vergangenen Jahrzehnte — Umweltprobleme, soziale Ungleichheit, geopolitische Risiken — zu adressieren und für finanzielle Stabilität und inklusives Wachstum zu sorgen. Wenn es China – wie wir glauben – gelingt, ein derartiges inklusives Wachstum zu erreichen, wird das Land unserer Ansicht nach auch nicht in der Middle Income Trap gefangen bleiben.
Q. Lohnt es sich noch, in chinesische Aktien zu investieren?
Die deutlichen Kursverluste mehrerer chinesischer Positionen in unseren Portfolios sind fraglos enttäuschend. Wir sehen jedoch immer noch bedeutende Anlagechancen in China und meinen, dass Investoren diesen Markt nicht einfach abtun sollten. Die von uns identifizierten Opportunitäten konzentrieren sich auf bestimmte Segmente.
- Im Zusammenhang mit dem übergreifenden politischen Ziel des „inklusiven Wachstums“ sehen wir weiterhin gute Anlagemöglichkeiten im Konsumsektor. Wir halten große Positionen in Branchen mit strukturellem Wachstum wie dem Hotelsektor, der Gastronomie und der Luxusgüterindustrie. Wir schätzen diese Branchen für ihre Dynamik und die Aussicht auf eine Konsolidierung durch führende Anbieter.
- Zweitens sehen wir bedeutende langfristige Anlagemöglichkeiten im chinesischen Life-Science- und Gesundheitssektor. Diese stehen ebenfalls im Einklang mit politischen Prioritäten wie der Stärkung des inklusiven Wachstums, der Verbesserung der medizinischen Versorgung und dem Aufbau einer weltweit führenden Positionierung in Zukunftssegmenten wie der Entwicklung und Herstellung innovativer Arzneimittel. Wir sehen viele Parallelen zwischen der heutigen chinesischen Life-Science-Industrie und der Position, in der sich Chinas dominante Internetfirmen vor einem Jahrzehnt befanden. Wie die chinesischen Internetpioniere kopieren viele Arzneimittelentwickler Modelle (klinische Anlagen, Targets, Einlizenzierung) aus dem Westen und adaptieren sie für Chinas sehr großen Arzneimittelmarkt. Angesichts Chinas enormer Vorteile in Bezug auf den Zugang zu Talentpools (Chemie, Biologie, Maschinenbau) und Kapital dürften diese Unternehmen ihre ersten Cashflows direkt wieder in echte Life-Science-Innovationen investieren (bispezifische Antikörper, Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, Gentherapie, mRNA-Impfstoffe und -therapien, Bioinformatik, Health-Tech). Wir glauben, dass China in den nächsten zehn Jahren mehrere führende Global Player in der Life-Science-Industrie hervorbringen wird.
- Schließlich halten wir es auch für möglich, dass viele der führenden chinesischen Tech-Unternehmen ein neues Gleichgewicht finden und sich nach den jüngsten Kurseinbrüchen als hervorragendes Investment erweisen werden. Noch vor wenigen Monaten wurde Tencent, Meituan, Pinduoduo und vielen anderen führenden chinesischen Unternehmen eine rosige Zukunft mit einem profitablen Wachstum vorausgesagt. Seither sind die Kurse dieser Aktien um 30% bis 50% eingebrochen. Als erstes müssen wir also klären, ob sich die Ertragskraft dieser Plattformen tatsächlich um 30% bis 50% reduziert hat. Falls nicht, müssen wir uns fragen, inwieweit diese Marktentwicklung stimmungsbedingt ist. Wenn die Frage so formuliert wird, sehen wir viel Hoffnung und auch Chancen.
Die zweite Frage, die konkret den chinesischen Tech-Sektor betrifft, lautet, welche positiven Auswirkungen die neuen Regelungen haben könnten. In den letzten zehn Jahren ist es wiederholt zu einem destruktiven Wettbewerb gekommen, in dem Subventionen, Preiskriege und fehlgeleitete Investitionen die Profitabilität der Unternehmen enorm ausgehöhlt haben. Wir haben ausgedehnte Kämpfe um Marktanteile gesehen, die keiner Logik zu folgen schienen, vor allem in Märkten, in denen nur noch wenige Anbieter übrig geblieben waren — wie im Fintech-Sektor, bei Essenslieferdiensten und in Teilen der Logistikindustrie. Künftig könnte im chinesischen Tech-Sektor wieder mehr Vernunft herrschen. Unter dem Druck der staatlichen Regulierung könnten wieder rationalere wirtschaftliche Entscheidungen getroffen werden. Aus Anlegersicht könnten sich positive Auswirkungen ergeben, zum Beispiel in Form langfristiger Profitabilität, eines beständigen Gewinnwachstums und eines Rückgangs der Volatilität, wie sie der chinesische Tech-Sektor in der Vergangenheit immer wieder erlebt hat. All dies könnte zu positiven Anlageergebnissen führen.
Q. Sind Sie immer noch extrem „bullish“ für chinesische Aktien? Falls ja, warum?
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass sich China in der Anfangsphase eines der größten Bullenmärkte aller Zeiten befindet. Dieser Bullenmarkt hat wenig zu tun mit „Touristen“ am chinesischen Aktienmarkt, d.h. Anlegern, die entweder kein Mandat haben, in Schwellenländeraktien zu investieren, oder nur über ein oberflächliches Verständnis der Vielschichtigkeit des chinesischen Marktes verfügen.
Wir rechnen in China aus mehreren Gründen mit einem strukturellen Bullenmarkt.
- Zum einen gehen wir davon aus, dass China für einen Großteil des kommenden Jahrzehnts der wichtigste globale Wachstumstreiber bleiben wird. Unseren Schätzungen zufolge wird China in den nächsten drei bis fünf Jahren ein durchschnittliches jährliches Wachstum von rund 1 Billion US-Dollar erwirtschaften. Damit würde China in den nächsten drei Jahren eine zusätzliche Wirtschaftsleistung erzielen, die der Größe der mexikanischen, saudi-arabischen und vietnamesischen Wirtschaft zusammengenommen entspricht. Wir sehen nichts, was den chinesischen Wachstumsmotor stoppen könnte.
- Zweitens rechnen wir weiterhin fest damit, dass die enormen chinesischen Sparreserven zunehmend diversifiziert angelegt werden dürften – also weniger in liquide, risikolose Vermögenswerte und Immobilien (aufgrund politischer Beschränkungen) und vermehrt in Aktien. Dank hoher Sparquoten ist das Vermögen der privaten Haushalte in China enorm. Schätzungen von Credit Suisse zufolge sind die privaten Vermögen in China seit Beginn des Jahrtausends um den Faktor 21 auf 78 Billionen US-Dollar gestiegen.3
- Drittens sehen wir Anlagechancen, die im direkten Zusammenhang mit dem politischen Ziel eines inklusiven Wachstums stehen und unter anderem den Gesundheitssektor, den Basiskonsumgütersektor und den zyklischen Konsumgütersektor betreffen.
- Schließlich wird es auch in Chinas Tech-Industrie, die von der Regulierungswut derzeit am stärksten betroffen zu sein scheint, Gewinner der neuen Regulierungslandschaft geben. Für langfristig orientierte Investoren ist das aktuelle Bewertungsniveau im chinesischen Internetsektor unserer Ansicht nach zudem attraktiv.
Q. Wie beurteilen Sie Schwellenländeraktien insgesamt?
Schwellenländeraktien haben ein schwieriges Jahrzehnt hinter sich. In den zehn Jahren bis Ende Juni 2021 verzeichnete der MSCI Emerging Markets Index auf US-Dollar-Basis ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 3,6%, verglichen mit 15,4% für den US S&P 500 Index und 6,1% für den MSCI EAFE Index.4 In den letzten zwölf Monaten haben auch die Kursverluste chinesischer Aktien die Performance der Emerging Markets (EM) ausgebremst. Während der S&P 500 Index in den zwölf Monaten bis Ende Juni 2021 um 36,5% zulegte und der MSCI EAFE Index einen Wertzuwachs von 30,3% verzeichnete, lieferte der MSCI EM Index nur eine Rendite von 19,7%.5
In einem Umfeld extrem niedriger Zinsen, stark steigender Rohstoffpreise und einer leichten Dollar-Abwertung ist dieser frappierende Minderertrag sehr ungewöhnlich.
Schuld daran sind ganz klar die „2 Cs“ – China und COVID. Während COVID-19 in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, die bislang noch keinen Zugang zu Impfstoffen haben, eine Erholung verhindert, sorgen Chinas drastische regulatorische Eingriffe für Nervosität.
Wir haben unsere positive Einschätzung der chinesischen Wirtschaft und Aktienmärkte bereits ausführlich dargelegt. Unter dem Strich sehen wir weiterhin gute Voraussetzungen für eine strukturelle Rally chinesischer Aktien. Außerdem glauben wir, dass sich die Volkswirtschaften in Lateinamerika, Südostasien und dem Rest der nichtindustrialisierten Welt im Nachgang der Pandemie kräftig erholen werden. Im Zuge dieser Erholung rechnen wir auch mit einem starken Anstieg der Unternehmensgewinne und Aktienkurse außerhalb Chinas. Nochmals betont werden sollte auch, dass die „Energiewende“ des kommenden Jahrzehnts für höhere Rohstoffpreise (sowohl Bergbau als auch Energie) und Rohstoffwährungen spricht. Wir sehen weiterhin sehr gute Voraussetzungen für eine gute Performance von Schwellenländeraktien.
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